Freitag, 27.5.:

Ein vonm Erdbeben verschüttetes Haus in Gumry, dem ehemaligen Leninakan. Das Erdbeben ging 1988 durch die Medien. Nach vier Stunden und zwanzig Minuten Flugzeit erreichen wir um etwa vier Uhr Ortszeit Eriwan. Die Uhren müssen also um zwei Stunden vorgestellt werden, Es ist warm, besonders in der Abfertigungshalle. Wir warten eine knappe Stunde auf die erste Passkontrolle. Ich komme ein wenig mit einem Holländer ins Gespräch, der für fünf Monate bei einer Schweizer 0rganisation bei der Lebensmittelverteilung in Gumry helfen will. Gumry, früher Leninakan, ist eine Großstadt, die seit der Erdbebenkatastrophe im Dezember 1988 zu weiten Teilen in Trümmern liegt. Damals kamen in Armenien 50.000 Menschen ums Leben. Viele der über 500.000 Obdachlosen leben nach wie vor in Notunterkünften oder bei Verwandten.

Auf dem Weg zur Gepäckausgabe hält mich ein Polizist an und fragt auf Englisch nach einer "registration". Bevor ich verstehe, was er meint, zeigt Günter ihm das Einladungsschreiben, das wir per Fax vom armenischen Gesundheitsminister bekommen hatten. Schon ist alles O.K.. Die offizielle Einladung, für die unsere Gastgeber gesorgt hatten, hat uns später noch weitere gute Dienste erwiesen. Um sechs Uhr haben wir die Abfertigung am Flughafen hinter uns. Schneller als üblich, zum G1ück! Unsere Gastgeber warten bereits auf uns. Andreas und ich wohnen bei Dr. Raffael Aslanian, genannt Raffi. Er ist Chefarzt der Intensivstation und unsere wichtigste Kontaktperson am Krankenhaus. Wir fahren sofort los, erst zum Krankenhaus, wo die Medikamente abgegeben werden, dann gleich weiter zu Raffis Wohnung. Unterwegs ein erster Blick auf den Ararat und auf die von der Morgensonne beschienene Stadt. Raffi wohnt mit seiner Familie im dritten Stock eines Wohnblocks in einer relativ geräumigen und gut eingerichteten Wohnung.
 
Wir sitzen beim Frühstück. Raffi, seine Frau Rita, Sohn Stepan, 15 Jahre, und dessen Schwester Lilja, 13 Jahre. Das Gespräch kommt nur langsam in Gang, denn alle sind müde, und Stepan muss alles übersetzen. Seine Eltern sprechen kaum Englisch, und Lilja lernt die Sprache erst seit zweieinhalb Jahren. Später entstehen trotz der Sprachprobleme intensive und lebhafte Gespräche.
Günter wohnt bei Armen Geworkian und seinen Eltern, Armen haben wir schon in Deutschland kennen gelernt.  Er hat ein Praktikum beim Deutschen Bundestag gemacht und arbeitet zur Zeit halbtags bei der Deutschen Botschaft in Eriwan. Er hat unseren Posaunenchor und unsere Arbeit kennen gelernt und für uns ein gutes und sehr volles Programm vorbereitet.  Armen spricht ausgezeichnet Deutsch, seine Mutter ist Englischlehrerin. Sie hat für uns eine Woche frei bekommen. Gegen l3 Uhr bringt Raffi uns zu Armen, wo Günter schon den Vormittag verbracht hat. Wir fahren diesmal nicht mit dem Krankenhausbulli, sondern mit Raffis Privatwagen. Die Straßen sind in ähnlich schlechtem Zustand wie die meisten Autos, einschließlich Raffis. Es gibt tiefe Schlaglöcher, und manchmal fehlen auch Gullydeckel.

Auf den sehr breiten Straßen wird deshalb oft Slalom gefahren. Der relativ geringe Verkehr macht das möglich. An Kreuzungen wird es dann doch mal chaotisch. Die Vorfahrtsregeln werden nicht immer so sehr ernst genommen. Markierungen gibt es nicht auf der Straße. Auffällig ist, dass das Linksabbiegen fast überall verboten ist. Stattdessen darf man an bestimmten Stellen auf der Straße einfach umdrehen. Eine Tankstellevon besonderer Art: Da der Sprtit rar und sehr teuer war und der Verkehr nur sehr rar, war es kein Problem, Tanklaster als Tankstelle zu benutzen.

Vor einigen Jahren, so erfahren wir, gab es einen Autoverkehr wie in Paris. Bis zu Armen sind es etwa zwei Kilometer. Und 130 Stufen! Armen wohnt im siebten Stock, und Aufzüge funktionieren in Eriwan grundsätzlich nicht, auch nicht, wenn Strom da ist, und den gibt es etwa vier bis fünf Stunden täglich zur Zeit. Im Winter gibt es wesentlich weniger Strom. Die höchsten Wohnblocks, die ich gesehen habe, haben siebzehn Stockwerke. 

Ein krankes Kind auf der Intensivstation Raffi fährt weiter zum Krankenhaus. Wir trinken Kaffee, typisch armenisch: Stark und mit viel Zucker, ohne Milch, in kleinen Tassen aufgegossen. Andreas fragt nach dem letzten Winter. "Suffering and struggling and find no end. It was awful.", antwortet Armens Mutter. Stepan hatte auf die Frage sehr zurückhaltend geantwortet. Später erfuhren wir, dass Raffis Familie im Winter in einem Zimmer gewohnt hatte, um genügend heizen zu können. Die meisten Familien konnten das nicht. Laut Focus sind im letzten Winter 30.000 Armenier erfroren.
Wir fahren zum Kinderkrankenhaus. Hrant, ein Freund von Armen, hat sich eine Woche Zeit genommen, um uns mit seinem Bulli kreuz und quer durch Eriwan zu fahren. Das Benzin, insgesamt 200 Dollar, übernimmt Günter. Im Krankenhaus gibt es ein Gespräch mit Raffi über die mitgebrachten Medikamente und einige andere Dinge, die am Montag noch einmal genauer durchgesprochen werden. Wir werden durch die Intensivstation geführt. Es sind viele schwere Fälle da, unter anderem zwei Kinder mit Schädelbasisbrüchen. Es ist viel Betrieb, viel mehr als im letzten September.

 Im Dienstzimmer hängt ein Gruppenbild vom Neuenhauser Posaunenchor. Die Direktorin des Krankenhauses empfängt uns. Es gibt noch einmal Kaffee, und viele dankbare Worte. Wir werden erabschiedet mit einem Segen "Gott sei mit euch.''
Nachmittags fahren wir nach Etschmiadsin, ca. 30 Kilometer westlich von Eriwan. Am Straßenrand stehen viele Tanklastwagen, armenische Tankstellen. Ich frage, woher das Öl kommt. Antwort: Von allen Seiten. Aus Aserbaidschan, das mit Armenien Krieg führt, aus der Türkei, deren Grenzbehörden nicht einmal das Rote Kreuz durchlassen, aus Georgien, wo immer noch Bürgerkrieg ist. Je länger Armenien blockiert ist, desto besser funktioniert scheinbar der Schwarzhandel.
Die kleine Stadt Etschmiadsin ist das Zentrum der Armenisch Orthodoxen Kirche. Wir erleben ein Stück von einem Gottesdienst mit, besichtigen eine weitere Kirche und sehen uns etwas um. Es gibt sogenannte Kreuzsteine zu sehen, und das Priesterseminar. Ein Chor probt. Armen erzählt einiges über die Geschichte der Armenischen Kirche. Schon Bartholomäus und Thaddäus, zwei der zwölf Apostel, sollen in Armenien gewesen sein. Im Jahre 301 wird die Armenische Staatskirche gegründet, die erste Staatskirche der Welt. Wie es dazu kam, ist eine etwas komplizierte Geschichte, für die hier leider kein Platz ist.
 
Auf dem Rückweg genießen wir den Blick auf den Aragaz, den mit 4090 Metern höchsten Berg auf Armenischem Staatsgebiet, und den Ararat, 5165 Meter, das Wahrzeichen Armeniens, seit dem ersten Weltkrieg auf Türkischem Gebiet.
Wir treffen uns mit Martin, einem Freund von Armen. Martin ist Ölgroßhändler und organisiert schwerbewaffnete Transporte durch Georgien. Er lädt uns zum Abendessen ein, Es gibt reichlich Fleisch, Wodka und Kognak, emotionale Trinksprüche und armenischen Humor, aber auch ernste Gespräche. Wir bekommen das Angebot, uns mit einem Lastwagen ohne weiteres einem seiner Konvois anzuschließen, um in Georgien sicher zu sein. Martin erzählt, wie er während des Erdbebens in Spitak, der am schwersten betroffenen Stadt, eingeklemmt war und nun panische Angst vor Hochhäusern hat. Auch der Karabachkrieg wird zum Thema, allerdings recht kontrovers. Die militärischen Erfolge der Armenier haben anscheinend aus ihrem Bewusstsein verdrängt, dass das Ende der Unterdrückung der 150.000 Karabach-Armenier ohne einen Frieden keine Dauer haben wird. Solange Armenien im Krieg ist, wird die Wirtschaftsblockade anhalten und das Land kaputtmachen, und auf Dauer hat Armenien auch militärisch die schlechteren Karten.
 

zurück

zurück zur ersten Seite

weiter

 

Bilder dieser Seite:

  1. ein vom Erdbeben zerstörtes Haus in Gymri

  2. eine etwas ausgefallene Tankstelle in Erivan

  3. ein krankes Kind auf der Intensivstation im Kindernotfallkrankenhaus