Nach vier Stunden und zwanzig Minuten Flugzeit erreichen wir um etwa vier Uhr Ortszeit Eriwan. Die Uhren müssen also um zwei Stunden vorgestellt werden, Es ist warm, besonders in der Abfertigungshalle. Wir warten eine knappe Stunde auf die erste Passkontrolle. Ich komme ein wenig mit einem Holländer ins Gespräch, der für fünf Monate bei einer Schweizer 0rganisation bei der Lebensmittelverteilung in Gumry helfen will. Gumry, früher Leninakan, ist eine Großstadt, die seit der Erdbebenkatastrophe im Dezember 1988 zu weiten Teilen in Trümmern liegt. Damals kamen in Armenien 50.000 Menschen ums Leben. Viele der über 500.000 Obdachlosen leben nach wie vor in Notunterkünften oder bei Verwandten. |
Auf dem Weg zur Gepäckausgabe hält mich ein Polizist an und
fragt auf Englisch nach einer "registration". Bevor ich
verstehe, was er meint, zeigt Günter ihm das
Einladungsschreiben, das wir per Fax vom armenischen
Gesundheitsminister bekommen hatten. Schon ist alles O.K.. Die
offizielle Einladung, für die unsere Gastgeber gesorgt hatten,
hat uns später noch weitere gute Dienste erwiesen. Um sechs Uhr
haben wir die Abfertigung am Flughafen hinter uns. Schneller als
üblich, zum G1ück! Unsere Gastgeber warten bereits auf uns.
Andreas und ich wohnen bei Dr. Raffael Aslanian, genannt Raffi.
Er ist Chefarzt der Intensivstation und unsere wichtigste
Kontaktperson am Krankenhaus. Wir fahren sofort los, erst zum
Krankenhaus, wo die Medikamente abgegeben werden, dann gleich
weiter zu Raffis Wohnung. Unterwegs ein erster Blick auf den
Ararat und auf die von der Morgensonne beschienene Stadt. Raffi
wohnt mit seiner Familie im dritten Stock eines Wohnblocks in
einer relativ geräumigen und gut eingerichteten Wohnung.
Wir sitzen beim Frühstück. Raffi, seine Frau Rita, Sohn Stepan,
15 Jahre, und dessen Schwester Lilja, 13 Jahre. Das Gespräch
kommt nur langsam in Gang, denn alle sind müde, und Stepan muss
alles übersetzen. Seine Eltern sprechen kaum Englisch, und Lilja
lernt die Sprache erst seit zweieinhalb Jahren. Später entstehen
trotz der Sprachprobleme intensive und lebhafte Gespräche.
Günter wohnt bei Armen Geworkian und seinen Eltern, Armen haben
wir schon in Deutschland kennen gelernt. Er hat ein
Praktikum beim Deutschen Bundestag gemacht und arbeitet zur Zeit
halbtags bei der Deutschen Botschaft in Eriwan. Er hat unseren
Posaunenchor und unsere Arbeit kennen gelernt und für uns ein
gutes und sehr volles Programm vorbereitet. Armen spricht
ausgezeichnet Deutsch, seine Mutter ist Englischlehrerin. Sie hat
für uns eine Woche frei bekommen. Gegen l3 Uhr bringt Raffi uns
zu Armen, wo Günter schon den Vormittag verbracht hat. Wir
fahren diesmal nicht mit dem Krankenhausbulli, sondern mit Raffis
Privatwagen. Die Straßen sind in ähnlich schlechtem Zustand wie
die meisten Autos, einschließlich Raffis. Es gibt tiefe Schlaglöcher,
und manchmal fehlen auch Gullydeckel.
Auf den sehr breiten Straßen wird deshalb oft Slalom gefahren. Der relativ geringe Verkehr macht das möglich. An Kreuzungen wird es dann doch mal chaotisch. Die Vorfahrtsregeln werden nicht immer so sehr ernst genommen. Markierungen gibt es nicht auf der Straße. Auffällig ist, dass das Linksabbiegen fast überall verboten ist. Stattdessen darf man an bestimmten Stellen auf der Straße einfach umdrehen. |
Vor einigen Jahren, so erfahren wir, gab es einen Autoverkehr wie in Paris. Bis zu Armen sind es etwa zwei Kilometer. Und 130 Stufen! Armen wohnt im siebten Stock, und Aufzüge funktionieren in Eriwan grundsätzlich nicht, auch nicht, wenn Strom da ist, und den gibt es etwa vier bis fünf Stunden täglich zur Zeit. Im Winter gibt es wesentlich weniger Strom. Die höchsten Wohnblocks, die ich gesehen habe, haben siebzehn Stockwerke.
Raffi fährt weiter zum Krankenhaus. Wir trinken
Kaffee, typisch armenisch: Stark und mit viel Zucker,
ohne Milch, in kleinen Tassen aufgegossen. Andreas fragt
nach dem letzten Winter. "Suffering and struggling
and find no end. It was awful.", antwortet Armens
Mutter. Stepan hatte auf die Frage sehr zurückhaltend
geantwortet. Später erfuhren wir, dass Raffis Familie im
Winter in einem Zimmer gewohnt hatte, um genügend heizen
zu können. Die meisten Familien konnten das nicht. Laut
Focus sind im letzten Winter 30.000 Armenier erfroren. Wir fahren zum Kinderkrankenhaus. Hrant, ein Freund von Armen, hat sich eine Woche Zeit genommen, um uns mit seinem Bulli kreuz und quer durch Eriwan zu fahren. Das Benzin, insgesamt 200 Dollar, übernimmt Günter. Im Krankenhaus gibt es ein Gespräch mit Raffi über die mitgebrachten Medikamente und einige andere Dinge, die am Montag noch einmal genauer durchgesprochen werden. Wir werden durch die Intensivstation geführt. Es sind viele schwere Fälle da, unter anderem zwei Kinder mit Schädelbasisbrüchen. Es ist viel Betrieb, viel mehr als im letzten September. |
Im Dienstzimmer hängt ein Gruppenbild vom Neuenhauser
Posaunenchor. Die Direktorin des Krankenhauses empfängt uns. Es
gibt noch einmal Kaffee, und viele dankbare Worte. Wir werden
erabschiedet mit einem Segen "Gott sei mit euch.''
Nachmittags fahren wir nach Etschmiadsin, ca. 30 Kilometer
westlich von Eriwan. Am Straßenrand stehen viele Tanklastwagen,
armenische Tankstellen. Ich frage, woher das Öl kommt. Antwort:
Von allen Seiten. Aus Aserbaidschan, das mit Armenien Krieg führt,
aus der Türkei, deren Grenzbehörden nicht einmal das Rote Kreuz
durchlassen, aus Georgien, wo immer noch Bürgerkrieg ist. Je länger
Armenien blockiert ist, desto besser funktioniert scheinbar der
Schwarzhandel.
Die kleine Stadt Etschmiadsin ist das Zentrum der Armenisch
Orthodoxen Kirche. Wir erleben ein Stück von einem Gottesdienst
mit, besichtigen eine weitere Kirche und sehen uns etwas um. Es
gibt sogenannte Kreuzsteine zu sehen, und das Priesterseminar.
Ein Chor probt. Armen erzählt einiges über die Geschichte der
Armenischen Kirche. Schon Bartholomäus und Thaddäus, zwei der
zwölf Apostel, sollen in Armenien gewesen sein. Im Jahre 301
wird die Armenische Staatskirche gegründet, die erste
Staatskirche der Welt. Wie es dazu kam, ist eine etwas
komplizierte Geschichte, für die hier leider kein Platz ist.
Auf dem Rückweg genießen wir den Blick auf den Aragaz, den mit
4090 Metern höchsten Berg auf Armenischem Staatsgebiet, und den
Ararat, 5165 Meter, das Wahrzeichen Armeniens, seit dem ersten
Weltkrieg auf Türkischem Gebiet.
Wir treffen uns mit Martin, einem Freund von Armen. Martin ist Ölgroßhändler
und organisiert schwerbewaffnete Transporte durch Georgien. Er lädt
uns zum Abendessen ein, Es gibt reichlich Fleisch, Wodka und
Kognak, emotionale Trinksprüche und armenischen Humor, aber auch
ernste Gespräche. Wir bekommen das Angebot, uns mit einem
Lastwagen ohne weiteres einem seiner Konvois anzuschließen, um
in Georgien sicher zu sein. Martin erzählt, wie er während des
Erdbebens in Spitak, der am schwersten betroffenen Stadt,
eingeklemmt war und nun panische Angst vor Hochhäusern hat. Auch
der Karabachkrieg wird zum Thema, allerdings recht kontrovers.
Die militärischen Erfolge der Armenier haben anscheinend aus
ihrem Bewusstsein verdrängt, dass das Ende der Unterdrückung
der 150.000 Karabach-Armenier ohne einen Frieden keine Dauer
haben wird. Solange Armenien im Krieg ist, wird die
Wirtschaftsblockade anhalten und das Land kaputtmachen, und auf
Dauer hat Armenien auch militärisch die schlechteren Karten.
ein vom Erdbeben zerstörtes Haus in Gymri
eine etwas ausgefallene Tankstelle in Erivan
ein krankes Kind auf der Intensivstation im Kindernotfallkrankenhaus